Kultur- und Kreativitätsschaffende starten neue Bürgernetzwerke!
Unser Lebensumfeld ändert sich gerade so rasant und tiefgreifend, dass uns geradliniges Denken und gewohntes Handeln nicht weiterbringt. Wir müssen raus aus unseren Routinen. Leichter gesagt als getan. Wie lange reden wir schon über Veränderung und Transformation, die unsere Gesellschaft dringend braucht: Energiewende gegen die Klimakrise, Verkehrswende durch CO2-neutrale Mobilität, Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft beim Bauen, Produzieren und Konsumieren, Digitalisierung gegen Bürokratie, Gemeinwohl-Ökonomie, ein Gesundheitswesen, das der Daseinsvorsorge und nicht der Rendite dient, und ein Bildungssystem, das lebensertüchtigend wirkt und junge Menschen hervorbringt, die bis ins hohe Alter widerstandsfähig und motiviert für lebenslanges Lernen bleiben. Die Liste an Herausforderungen ließe sich fortführen. Überall geht zu schleppend voran, weil wir noch nicht alle Möglichkeiten nutzen.
Kultur und Kreativität als Treibstoff
Hier kommen Kultur und Kreativität ins Spiel. Es sind enorm wertvolle Nähr- und Treibstoffe für unsere Gesellschaft. Künstler:innen. Kultur- und Kreativschaffende agieren und handeln mit intrinsischer Motivation. Sie denken um die Ecke, stellen ungewöhnliche Fragen. Sie fragen nach dem Sinn, greifen verschiedene Impulse auf, sie verbinden, kombinieren und erweitern, locken Emotionen hervor, brechen Muster und Gewohnheiten auf, leiten unser Handeln in neue Bahnen. „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ – sagte einst Albert Einstein. Kultur und Kreativität wirken so vielfältig und breit, dass es dafür hunderte Beispiele gibt, inspirierende Geschichten des Gelingens ebenso wie evidenzbasierte wissenschaftliche Studien. Die folgenden anschaulichen Beispiele zeigen: Kreativität und Kultur sind kein „nice to have“, sondern ein „must have“, unverzichtbare Grundpfeiler und Treibstoffe für unsere Gesellschaft.
1: Kultur und Kunst als inspirierende Erprobungsräume
Kulturelle und künstlerische Erfahrungen wirken nachweislich auf unser Wohlbefinden. Wir fühlen uns angeregt und gestärkt, wenn wir lesen und spielen, Musik und Geschichten hören, Theater und Tanz erleben, Filme und Fotos ansehen, ins Museum und in Ausstellungen gehen, von schöner Architektur, Kunst und Mode umgeben sind. Noch tiefer und nachhaltiger wirken kreative Erfahrungen, wenn wir nicht nur konsumieren, sondern als Kulturakteur:innen und Kunstproduzent:innen selbst aktiv werden. Bei kreativer Arbeit erlernen wir, was im täglichen Miteinander mit anderen Menschen gefordert ist.
Beim Musikmachen und Singen hören wir einander zu. Beim Theaterspielen erproben wir uns in verschiedenen Rollen, fühlen uns in andere hinein und wechseln Perspektiven. Reale Rollensimulationsspiele hat die Theatergruppe Rimini Protokoll zu ihrem Markenzeichen gemacht. Gemeinsam mit dem Publikum werden Politik-, Alltags- und Zukunftsszenarien durchgespielt. Beim Tanzen ergründen wir unser Zeitgefühl, experimentieren mit dem Führen und Folgen. Beim Zeichnen und Fotografieren beobachten wir, nehmen die Welt in uns auf und spiegeln sie. Beim Schreiben und Filmen erzählen wir reale Geschichten oder zeigen die Welt so, wie sie sein könnte. Wer die Welt ändern will, muss sie vorausdenken. Wer Zukunft machen will, muss Möglichkeiten ausprobieren, Chancen nutzen. Das gelingt hervorragend mit Kultur und Kunst und fördert fast nebenbei auch die Persönlichkeitsentwicklung. Vor diesem Hintergrund erscheint die Streichung kreativer Fächer in der Schule völlig widersinnig. Musik und Kunst, Theater und Tanz müssen zu Pflichtfächern werden – es sind Erprobungsräume für unser Miteinander und unsere Zukunft.
2: Kultur- und Kreativwirtschaft als Innovationstreiber und Wegbereiter
Viele gesellschaftliche Trends und Innovationen haben ihre Keimzelle in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Kreativschaffende gehen mit Mut und Experimentierfreude voran. Innovationen wie die Online-Bibliothek Wikipedia oder gemeinsam programmierte Open-Source-Software sind ohne kollaboratives, kokreatives Handeln und die Arbeit in Teams undenkbar. Interdisziplinäre Kooperationen gibt es seit Jahrhunderten im künstlerisch-kreativen Umfeld. Dank der Medici in Florenz lenkten die Architekten bei Bauprojekten viele verschiedene Gewerke so wie heute auf Großbaustellen. Auch im Film und im Theater kooperieren unterschiedliche Berufsgruppen: Autoren und Schauspieler, Requisite und Regie, Verwaltung, Pressearbeit und Marketing, Handwerk, Film- bzw. Bühnentechnik. Vermitteln und Querdenken ist für Akteur:innen der Kreativbranche Tagesgeschäft, verbunden mit viel sozialer und kommunikativer Kompetenz.
Produkt- und Kommunikationsdesigner nutzen die Methode Design Thinking. Sie denken sich in Nutzer:innen und Zielgruppen hinein, befragen sie nach ihren Wünschen und Bedürfnissen. Mit den gesammelten Erkenntnissen entwerfen sie passende Produkte und Dienstleistungen in einem zukunftsorientierten„enkelfähigen“ Design. Sie schaffen Prototypen, um Denkmodelle beim Handeln in der Wirklichkeit zu erproben. Nach dem Kreislaufprinzip hat der Designer Carsten Buck die innovative Milchflasche MilkTumbleraus einem Bio-Rohkunststoff entworfen, einem Abfallprodukt der Käseherstellung. Die Flasche kann beliebig oft und ohne Qualitätsverlust eingeschmolzen und wiederverwertet werden und so in einem geschlossenen Kreislauf zirkulieren.
Auch New Work und Coworking haben ihre Wurzeln in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Wer sich in kooperative Netzwerke begibt, erreicht mehr als allein. Die Kultur des Teilens erfanden Kreative in ihren Ateliers, Werkstätten, Probenräumen, Theatern. Um eigene Ressourcen zu schonen, werden Räume, Arbeitsmittel und Wissen geteilt.
3: Kreative Vordenker als Impulsgeber und Transformatoren für die Gesellschaft
Für ihre Gestaltungsprozesse haben Kreativschaffende eine besondere innere, intrinsische Haltung und eine Vielzahl wirksamer Verfahren und Formate entwickelt. Sie wenden sie nicht nur in eigenen künstlerischen Schaffensprozessen an, sondern auch in zivilgesellschaftlichen Prozessen. Sie geben Impulse und inspirieren, beraten und coachen, unterstützen als Mediator:innen und Prozessbegleiter:innen, z. B. in interdisziplinären Reallaboren, in Ateliers und Workshops mit Bürger:innen, mit Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft. Wenn Veränderungen angestoßen werden sollen, helfen Kreativschaffende mit präzisen Fragen und empathischem Zuhören, mit Rollen- und Perspektivwechsel, Vorstellungs- und Wahrnehmungsvermögen, mit Offenheit, Neugierde, Mut, Experimentierfreude, Leidenschaft, Begeisterung, Humor, Zuversicht: Was kann ich? Wen kenne ich? Mit wem kann ich mich verbinden, um ein Ziel zu erreichen? Was kann ich riskieren?
Die folgenden Praxisbeispiele zeigen, welche Themen von Kreativschaffenden bereits erfolgreich bearbeitet werden und Anregungen für Nachahmung in Ihrer Region geben.
Umdenken anstoßen
Kreativen gelingt es dank origineller Verfahren, eine Bewusstseinsänderung herbeizuführen. Mit seiner Fahrraddisco bereichert Björn Hansen Festivals und sensibilisiert für mehr Nachhaltigkeit. Den Strom für die Bühnen- und Musikprogramme sollen die Besucher:innen selbst erzeugen, indem sie auf Fahrrädern kraftvoll in die Pedale treten. Erst wenn die Muskeln brennen, wird dem einen oder anderen bewusst, wie kostbar Energie ist. Die Fahrraddisko gibt den ersten Impuls, Bildungsworkshops und Beratung folgen – zu Themen wie erneuerbare Energien, Energieeffizienz und nachhaltige Entwicklung.
Miteinander Reden
Die Schweizer Aktionskünstler Frank und Patrik Riklin vom Atelier für Sonderaufgaben
widmen sich dem sozialen Miteinander. Urbane und ländliche Orte bewerben sie mit ungewöhnlichen Kampagnen. Ihr Quatschmobil fährt nur, wenn sich Gäste und Fahrer unterhalten. Gesprächsstoff wird zum Treibstoff! Umso mehr, wenn dabei Weltverbesserungsideen entstehen, wie das von ihnen gegründete preiswerte „Null-Stern-Hotel“. Statt einsam Luxus zu genießen, sollen Hotelgäste neue Bekanntschaften schließen, was in einem Schweizer Bunker mühelos gelingt.
In ihrer „Manufaktur für konstruktive Streitkultur“ ProPalaver vermitteln die Schauspieler Ali Wichmann und Kai Helm, wie Konflikte und Meinungsverschiedenheiten aufgelöst werden können: durch empathisches Fragen, zuhören und verstehen, all das führt zu mehr Verständnis.
Bürgerwerkstätten
In Bürgerparlamenten, Bürgerräten, Bürgerforen und Zukunftswerkstätten entwickeln Kreativschaffende als Moderator:innen gemeinsam mit Bewohner:innen Ideen und Vorhaben. Mit präzisen Fragen, eine Kernkompetenz von Autor:innen und Journalistinnen, haken sie nach: Wie geht es Dir? Was brauchst Du? Was wünschst Du Dir? Was kannst Du selbst beitragen? Was wäre wenn… ? Wie kann uns mehr Fragenfitness dabei helfen, vom Problem zu Ideen und Lösungen zu gelangen? Emotionen und Vorstellungsvermögen der Menschen werden angeregt. In einem vertrauensvollen Raum sprechen Bewohner:innen über Erfahrungen und Erlebtes. Zerwürfnisse und Gräben werden mit Gemeinschaftsaktionen aufgelöst. So gelingt es, Zusammenhalt zwischen den Generationen, Zufriedenheit und Verbundenheit im Ort zu stärken. In der Gemeinde Plate planen die Bewohner:innen ein Tanzfest für Jung und Alt zum Zuschauen, Mitmachen, Lernen und Fitbleiben. Netzwerke und Vereine werden von Kreativen fit gemacht im Umgang mit Politik, Verwaltung, Medien und Fördermittelgebern.
Demografiewandel in Vereinen
Der Demografiewandel führt nicht erst seit Corona zu Mitgliederschwund in vielen Vereinen. Heimat- und Kulturvereine lassen sich häufig von kreativen Moderator:innen unterstützen, vor allem im ländlichen Raum. Sie fragen und reflektieren in gemeinsamen Workshops, entwerfen Ideen und Strategien für neue Veranstaltungsformate und Angebote an ungewöhnlichen Orten, um jüngere Mitglieder zu gewinnen. Der Heimatverein Neustadt-Glewe hat in einem Strategieprozess neuen Formate und Möglichkeiten ausgelotet.
Kooperation als neues Führungsmodell
In Verwaltungen und Behörden wird häufig gegeneinander statt miteinander gearbeitet. Die Ursachen sind vielschichtig: ein unpersönliches Arbeitsumfeld, ein gesichtsloses Büro, Arbeitsüberlastung, intransparente Abläufe und Rollen, unsichere Führungskräfte. Mit kreativen Methoden schärft der Künstler Daniel Hoernemann in Verwaltungen die Wahrnehmung der Mitarbeitenden für Leerstellen und Fehlentwicklungen. Er ermutigt sie, Neues auszuprobieren, zu experimentieren und sich gegenseitig zu helfen und zu fragen. Ziel ist Augenhöhe und die Stärkung von Selbstermächtigung und Intrapreneurship.
Fehlerkultur nutzen
Kreative sehen Fehler nicht als Versagen an, sondern als Station in einem Reifeprozess. Sie ermutigen in Workshops, Prozesse zu reflektieren und spielerisch zu simulieren. Das senkt Risiken und spart enorme Kosten. Erprobte Fehlerkultur für medizinisches Personal in der Notaufnahme von Krankenhäusern kann Leben retten. Das gilt auch für Spezialkräfte, Produzenten und Logistiker von Gefahrengütern. Ziel ist es, verschiedene Sichtweisen einzunehmen, Ursache und Wirkung erkennen und korrekte Kommunikationsabläufe einzuüben. Rollenwechsel beim Spielen steigern Lernerfolg und Erkenntnisgewinn. Planspiele gibt es auch in elektronischen Spielen und Apps. Sie bieten geschützte Räume, etwa für Rettungskräfte von Polizei und Feuerwehr.
Organisationskultur verändern
Robert Kessler hat mit seinem Kunstwerk Yes to innovation die Bedeutung von Innovation veranschaulicht – im Auftrag des Unternehmens Roche Diagnositics. In der Mitte des interaktiven Kunstwerks ist eine riesige, runde, begehbare Gleichgewichtsplatte versenkt. Oberhalb des Randes sind gegensätzliche Begriffe eingraviert, die Innovation entweder vorantreiben oder behindern: Freiheit, Offenheit und Vertrauen im Gegensatz zu Angst, Abwertung und Misstrauen. Je nachdem, wie viele Menschen auf der Scheibe stehen und sie austarieren, werden die verschiedenen Begriffe sichtbar.
Transformation gelingt
Künstlerische Arbeitsweisen lassen sich hervorragend auf andere Bereiche übertragen: in Verwaltung, Wissenschaft und Bildung, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Der Transfer ist erfolgreich, wenn Menschen und Organisationen unter kompetenter Anleitung von Künstler:innen und Kulturschaffenden selbst kreative Erfahrungen sammeln und künstlerisches Denken anwenden können. Transformation gelingt, wenn Menschen inspiriert, ermutigt und befähigt werden, ihr Umfeld zu gestalten, zu verändern und weiterzuentwickeln.
Kreative Potentiale in Bürgerräten nutzen
Bürgerräte, Bürgerforen und Bürgerparlamente können werden maßgeblich von Künstler:innen, Kultur- und Kreativschaffenden profitieren, beflügelt durch ihre Fragenkompetenz und ihre kreativen Impulse. Kreativschaffende agieren kooperativ und kokreativ an Schnittstellen. Sie moderieren, hinterfragen, reflektieren und vernetzen. Über ihre primäre kreative Tätigkeit hinaus mischen sie sich aktiv als Gesellschaftsgestalter ein. Sie engagieren sich als Brückenbauer, Übersetzer, Intermediäre, Vordenker, Projektsteuerer, Transformatoren. Sie spüren auf, was relevant und wichtig ist. Sie entwerfen Konzepte und Szenarien, sie spielen Modelle, Prozesse und Abläufe durch, experimentieren und wagen Neues. Künstler:innen, Kultur- und Kreativschaffende sind regional hervorragend vernetzt und genießen daher Vertrauen. Die Praxisbeispiele zeigen, bei welchen Themen und Herausforderungen Künstler:innen und Kreative wirksam eingebunden werden können.
Finanzierung
Mittel für die beratende und impulsgebende Tätigkeit werden von den Auftraggeber:innen bereit gestellt. Künstler:innen erhalten ein Honorar, das sich am TVöD (Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst orientiert), und zusätzlich ein passendes Budget, um das Projekt umzusetzen. Im Rahmen von (Modell-)Projekten können die Kosten auch über Bundes-/ Landesprogramme und Stiftungen finanziert werden.
Binden Sie Kreative ein und werden Sie selbst aktiv!
Die vielfältigen Beispiele zeigen: Schon heute profitieren viele Bürgerräte maßgeblich von Künstler:innen, Kultur- und Kreativschaffenden, beflügelt durch Fragenkompetenz und von kokreativen Impulsen. Diese Kompetenz wollen wir als Bürgernetzwerk-Plattform stärker nutzen und möchten Kultur- und Kreativschaffende unterstützen, eigene Bürgernetzwerke in ihrer Kommune zu starten. AUsserdem gibt’s Impulsvorträge zu best practices, zu Modell- und Leuchtturmprojekten, partizipative Workshops Online und in Präsenz (z. B. Fragenfitness) sowie Medienproduktionen: Filme, Video-Dokus, Interviews, Podcasts, Audioguides.
Wer gerne als Kunst- und Kulturschaffende:r ein eigenes Bürgernetzwerk aufbauen möchte, oder wer Kontakte zu engaigerten Kunst- und Kulturschaffenden in der eigenen Region aufnehmen, bitte einfach wie folgt Kontakt aufnehmen:
Fotos: © Massiv Kreativ